20 versus 5 Minuten
Es dauert eine Ewigkeit zum Auto, denn wir wohnen im vierten Stock und ich nehme jede Stufe einzeln. Links am Geländer, rechts an Thomas festhaltend. Und permanent tönend. Thomas schlägt mehrmals vor, einen Krankenwagen zu rufen. Ich lehne das heftig ab. Am Auto angelangt, quäle ich mich auf den Beifahrersitz, auf den Thomas bereits ein Handtuch gelegt hatte. Und er stellt die entscheidende Frage, ob ich es mir zutraue, in unsere Wunschklinik mit Beleghebamme oder ins Chemnitzer Klinikum um die Ecke zu fahren. 20 versus 5 Minuten. Ich will unbedingt nach Mittweida, koste es was es wolle. Thomas rast also nach Mittweida. Während der Fahrt verliere ich immer wieder Fruchtwasser. Meine Augen sind geschlossen. Ich habe das Gefühl, dass mir übel wird. Mir ist auf jeden Fall noch immer furchtbar kalt. Ich stelle nun ganz ohne Druck fest, dass ich Wehen in einem Minutenabstand habe. Das macht mir Angst. Nicht, dass der Wurm gleich kommt.
Ein Zentimeter ?
Halb elf kommen wir am Krankenhaus Mittweida an und ich merke, dass mir definitiv kotzübel ist. Ich rufe Thomas zu, mir schnell aus dem Auto zu helfen. Er hilft mir aus dem Auto und zum Dank breche ich Thomas mehrmals vor die Füße. Danach geht es mir etwas besser, aber ich friere noch immer tierisch und die Wehen sind auch noch da. Und wie.
Thomas holt schnell einen Rollstuhl vom Empfang und bringt mich in die erste Etage in den Kreißsaal. Dann kommt er dazu, endlich unsere Beleghebamme zu informieren, ins Krankenhaus zu kommen. Die vor Ort tätige Hebamme fragt mich, was ich anziehen möchte und ich antworte nur, dass ich mich zum Entbinden eher Ausziehen werde. Was für eine zumindest für mich zu diesem Zeitpunkt blöde Frage. Sie legt ein mobiles CTG und ich laufe im Kreißsaal umher, auf der Suche nach einer Position, die meine Schmerzen maximalst lindert. Ich werde nicht wirklich fündig. Meine Augen habe ich wie schon im Auto größtenteils geschlossen. Kurz vor elf Uhr kommt unsere Hebamme, ich begrüße sie, indem ich nur kurz meine Augen öffnen und sie anschaue. Nachdem sie sich umgezogen hat, untersucht sie meinen Muttermund. Als unsere Hebamme die Zahl sagte, war meine Enttäuschung riesig: fucking ein Zentimeter! Und trotzdem jetzt schon Wehen im Minutenabstand. Wie lange sollte ich diesen Schmerzpegel noch durchhalten? Ich war desillusioniert, dachte, dass es bei dem geringen Abstand zwischen den Wehen doch gar nicht mehr so lange dauern kann. Ein Zentimeter! Ich hätte jetzt gern das Handtuch geworfen. Auch weil die Wehen immer heftiger wurden.
Zankapfel Flexüle
Und weil das nicht schon genug war, stellte meine Hebamme bei mir Fieber (38,9 Grad) und Schüttelfrost fest. Deswegen war mir also so verdammt kalt. Meine Hebamme teilte mir mit, dass ich eine Flexüle gelegt und Penicillin als Antibiotikum bekommen müsste. Das Thema Flexüle war für mich ein Zankapfel. Da ich wie viele Frauen B-Streptokokken habe, wird eine intravenöse Antibiose unter der Geburt empfohlen. Das wollte ich nicht, da ich nicht zuletzt im Krankenhaus während meiner Gallenblasenentzündung gespürt habe, wie beeinträchtigend und störend Flexülen sein können. Ich wollte partout nicht bei meinen Bewegungen die Flexüle spüren und dadurch aus meinem Flow gerissen werden. Außerdem sollte der Wurm nicht schon während seiner Geburt Antibiotikum erhalten. Stattdessen hatten wir eine zweitägige Sauerstoffsättigungsüberwachung im Krankenhaus anvisiert. Naja. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Nun bekam ich also eine Flexüle vom Arzt. Für das Setzen der Flexüle ruhig zu halten, fiel mir sehr schwer. Denn ich befand mich bereits im Hackebeil-Stadium: Die Wehen fühlten sich an, als ob jemand immer wieder ein Hackebeil in meinen unteren Rücken zimmerte.