Die letzte Hoffnung
Ich muss wieder Brechen. Dieses Mal vor die Füße meiner Hebamme, die noch rechtzeitig nach hinten springend einem größeren Malheur ausweichen kann. Die Schmerzen zerreißen mich. Ich bitte um Schmerzmittel, welches ich nach dem Antibiotikum erhalte. Kurz nach Mitternacht bis circa um eins tropft das Schmerzmittel in meine Vene und ich erfahre etwas Linderung. Die Wehen sind nun aushaltbar. Mir ist es sogar möglich mitzubekommen, dass die Wehen immer so sieben Mal andauern bis zur Wehen“pause“.
Als das Schmerzmittel durchgelaufen war, erwischte es mich eiskalt, denn ohne Vorwarnung war der Wehenschmerz schlagartig wieder im Hackebeil-Modus. In die Badewanne durfte ich zur Linderung leider aufgrund meines Fiebers nicht, daher fragte ich um halb zwei nochmal nach Schmerzmittel. Meine Hebamme bejahte den Wunsch, allerdings müsste eine gewisse Pause zwischen den Schmerzmittelgaben berücksichtigt werden: 90 Minuten! Bis um drei müsste ich also aushalten… Lieber wollte ich sterben. Es war für mich unvorstellbar diesen Schmerz auch nur annähernd so lang aushalten zu müssen. Ich saß schmerzerfüllt auf dem Klo. Die Tür war offen. Thomas saß auf dem Badewannenrand. Ich konnte nicht mehr. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich ergab mich und tat, was ich nie tun wollte: Ich bat um eine PDA. Oh Gott, dachte ich, was machst du nur. Ich sah mich schon betäubt ohne Gefühl und Power für die Presswehen im Op-Saal. Ich akzeptierte die mögliche Folge Kaiserschnitt in meinem Worst-Case-Szenario. Und dennoch hielt ich meinen „Wunsch“ aufrecht, wohl viel treffender: meine letzte Hoffnung. Ich verabschiedete mich innerlich von einer spontanen Geburt. Und war super enttäuscht von mir. Diese Vorwürfe waren nicht sonderlich förderlich für mich, das war mir bewusst. Es war in der Praxis aber wie so oft schwer, mich von meinem Idealablauf zu verabschieden.
Ankunft in meiner Geburtskäseglocke
Meine Hebamme wies mich ruhig darauf hin, dass bis zur gelegten PDA voraussichtlich eine Stunde vergehen würde. Das hatte ich befürchtet. So oder so hieß es also für mich: Noch 60 oder 90 Minuten bis zur Linderung. Ich hatte also keine Wahl, ich musste da durch. In meinem Fokus war damit nicht mehr, wann ich Linderung erfahren werde, sondern von Wehe zu Wehe kommen. Ich erinnerte mich an meinen Yoga-Kurs. Jede Wehe bringt dich deinem Kind näher, hatte die Kursleiterin uns immer wieder mantraartig in Erinnerung gerufen. Visualisiert hatte sie das durch ein liebevoll gemaltes Bild: Einen Berg, um den sich ein Weg voller Wehen und Wehenpausen (gekennzeichnet durch Bänke) schlängelte. Am Fuß des Bergs befand sich ein (Fruchtwasser-)see. Der Berggipfel war von rosa Wolken umhangen: Der sensible hormonell mit dem Höhepunkt beim Sex vergleichbare Bereich, in den die Wehen münden. Das begann ich mir innerlich immer wieder in Erinnerung zu rufen. Wehe für Wehe, nichts anderes zählte.
So habe ich es vermutlich in den Bereich geschafft, in dem ich mich den Wehen hingegeben konnte, mich habe treiben lassen von meinem körperlichen Rhythmus. Ich fand mich in einer geburtsvorbereitenden Position wieder, die ich so vorher nicht mit Thomas im Geburtsvorbereitungskurs „geübt“ hatte: Quer mit den Armen über das Bett hängend, festgehalten im Artistengriff von Thomas in der Hocke, den Kopf auf der Bettkante. Nach jeder Wehe zog ich mich an der Bettkante hoch und legte entweder meinen Oberkörper auf das Bett ab oder versuchte im Stehen die Hüften zu kreisen. Ich dachte nicht mehr an ein Schmerzmittel oder an eine heilbringende PDA. Ich konnte an gar nichts denken. Ich war meinen Wehen vollkommen ergeben, ich hatte alles losgelassen, ich atmete von einer zur nächsten Wehe. Ich war endlich in meinem Geburtsrhytmus, meinem Geburtsflow, in meiner Geburtskäseglocke angekommen. Und ich wusste, nichts würde uns stören: Kein Schichtwechsel, kein Kinderarzt, keine noch zu tätigenden Absprachen. Ich war so froh, dass wir eine Beleghebamme ergattern konnten, die wusste, was ich wollte und was nicht.